
Rolf Parr (Universität Duisburg-Essen):
Traurige Tropen, oder: Einfachheit als Schnittstelle von Exotismus und Strukturalismus
Der Vortrag problematisiert zunächst den Bezug der selbst schon vielschichtigen Bezeichnung ›Exotismus‹ auf Claude Lévi-Strauss und »Traurige Tropen«. Denn die Vielschichtigkeit dessen, was unter ›Exotismus‹ gefasst wird, ist nicht minder differenziert auf den Ethologen, den Strukturalisten und den Schriftsteller Lévi-Strauss zu beziehen, und zwar ein weiteres Mal differenziert für die 1930er Jahre als Zeit der Reisen, die 1950er Jahre als Zeit der Erstveröffentlichung und unsere heutige Zeit der 2020er Jahre.
Innerhalb dieses komplexen Feldes wird als einem denkbaren roten Faden der Korrelation von Strukturalismus und Exotismus mit der gemeinsamen Schnittstelle der ›Einfachheit‹ nachgegangen und das ›Exotismus unterlaufende Schreibverfahren‹ von Lévi-Strauss auf der Folie der Rezeption und der sich daran anschließenden Exotismus-Diskussion rekonstruiert. – Sofern es die Zeit zulässt wird weiter auf die von Lévi-Strauss in »Rasse und Geschichte« entwickelte Vorstellung von kulturellen Korrelations- und Oppositionsbeziehungen eingegangen, einen theoretischen Text, der sein ethnologisches Pendant in dem Band „Die Luchsgeschichte. Zwillingsmythologie in der neuen Welt« gefunden hat. Beide Texte ermöglichen es, die Exotismusfrage für Lévi-Strauss noch einmal in einen anderen Kontext zu stellen.
Biographische Angaben:
Rolf Parr ist Professor an der Universität Duisburg-Essen, wo er in der Germanistik Literatur und Medienwissenschaft lehrt. Promoviert wurde er 1989 mit der Arbeit „‚Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!‘ Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860–1918)“. 1996 folgte die Habilitation an der Universität Dortmund für das Fach „Neuere deutsche Literatur“ mit einer Studie zum literarisch-kulturellen Vereinswesen („Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Vereinen, Gruppen und Bünden vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg“). Arbeitsschwerpunkte: Literatur-, Medien- und Kulturtheorie/-geschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts; (Inter-)Diskurstheorie und Normalismusforschung; Kollektivsymbolik; Mythisierung historischer Figuren; literarisches Leben/Literaturbetrieb, Literatur/Medien-Beziehungen; Fernsehen; mehrsprachige Literatur und mediale Darstellungen von Arbeit. Rolf Parr ist Mitherausgeber der “kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie”, die 1995 ein Themenheft unter dem Titel “Tropische Tropen – Exotismus” herausgebracht hat.
Maria Cornelia Zinfert (Université de Montréal):
Projekt, Programm, Praxis: Victor Segalens Ästhetik des Diversen
Bei Victor Segalens Ästhetik des Diversen handelt es sich um ein beständig fortgeschriebenes (und nie abgeschlossenes)* Programm für Segalens eigene literarische und theoretische Produktion, das dezidiert als Gegenprobe zum oder Umkehrung des literarischen Exotismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzipiert ist: Anstatt zu betrachten und zu beschreiben, was ihm als Reisendem begegnet, war es Segalens Bestreben den Widerhall exotischer Milieus auf seine Anwesenheit wahrzunehmen und aufzuzeichnen. Als Wesentliches galt ihm dabei die Form.
In solcher Sicht erschließt sich eine der ursprünglichen Bedeutungen der Ästhetik des Diversen bei eingehender Betrachtung der Erstausgabe der Stèles. Die unter diesem Titel 1912 in Peking in einer Auflage von exakt 81 Exemplaren veröffentlichten Gedichte waren in einem hybriden (chinesisch- europäischen) Buch-Objekt abgedruckt, das auf Grundlage der Ausgabe von Timothy Billings und Christopher Busch (2007) in seinen rein formalen Aspekten zu beschreiben und zu interpretieren ist. Den Ausgangspunkt dazu bildet die von den Herausgebern in der ihrer Einleitung formulierte These, in seinem Gedichtband Stèles zeige sich der Kulturtheoretiker Segalen bei der Arbeit.
Bleibende Bedeutungen von Segalens Ästhetik des Diversen, die Potentiale seiner Umkehrung eines (vom Kolonialismus geprägten) Exotismus für die Gegenwart resultieren aus der für Segalens Exotismus grundlegenden, folgenreichen Umkehrung der Blickrichtung. Diese erfasst auch den Betrachtenden, (künstlerisch, literarisch, theoretisch) Produktiven: Anstatt das Fremde, das Andere vom eigenen – zentralen – Standpunkt aus zu betrachten, reflektiert dieser sich selbst als (peripheres) betrachtetes Objekt. Somit impliziert das Wahrnehmen und Aufzeichnen des Widerhalls der eigenen Anwesenheit ein Aufbrechen des kolonialen, exotistischen, eurozentrischen Blick-Regimes und eine damit in Gang gesetzte Dynamisierung der Positionen Ich/Anderer, Innen/Außen, Zentrum/Peripherie. Auch daher ist Victor Segalen neu zu entdecken.
* Die erstmals postum 1978 unter dem Titel Essai sur l‘exotisme. Une esthétique du divers (Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus, 1983) publizierten Notizen von Victor Segalen haben die gesamte zweite Schaffensphase des multidisziplinären Künstlers und Theoretikers begleitet. Im Herbst 1904 während der Rückkehr aus Französisch-Polynesien als stichwortartige Absichtserklärung begonnen, wurden diese Aufzeichnungen erst 1908 wieder aufgenommen und dann von 1909 bis 1918 in China fortgesetzt.
Biographische Angaben:
Dr. Maria Cornelia Zinfert ist DAAD-Gastdozentin an der Université de Montréal im Département de littératures et de langues du monde. Sie hat in München und Berlin Romanistik, Germanistik und Allgemeine und Vergleichende Literwissenschaft studiert und wurde 2002 am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über die Romane von Victor Segalen promoviert. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie als Lehrbeauftragte hat sie am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und im Studiengang Visuelle Kommunikation der Universität der Künste Berlin unterrichtet. Neben ihrer wissenschaftlichen Laufbahn arbeitet sie in der Kunst- und Kulturvermittlung sowie als Autorin und Übersetzerin. Seit dem Herbstsemester 2017 ist sie als DAAD-Gastdozentin in Montréal.
Publikationen im Zusammenhang mit Victor Segalen:
• Victor Segalen, Ziegel & Schindeln. Literarische Skizzen und Reiseaufzeichnungen China und Japan 1909-1910, aus dem Manuskript herausgegeben und übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen, (Matthes & Seitz Berlin) Berlin 2017
• Victor Segalen. Expedition in das Reich der Mitte / Victor Segalen. Regard sur la Chine, Fernsehdokumentation (52 min.) Regie: Tamara Wyss, Gebrüder Beetz Filmproduktion, in Koproduktion mit ZDF/arte und Sichuan TV, unterstützt von der Volkswagenstiftung, in Kooperation mit dem Musée Guimet, Paris, Erstausstrahlung 29. Januar 2011, ZDF/arte in der Reihe Abenteuer Arte / Aventures Humaines ZDF/arte (Recherche, Übersetzungen und Drehbuch)
• Victor Segalen, Tote Stimmen: Maori Musik gefolgt von Giorgio Agamben, Ursprung und Vergessen, herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Maria Zinfert, (Merve) Berlin 2006
• Victor Segalen, New York – San Francisco – Tahiti, herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Maria Zinfert, (Friedenauer Presse) Berlin 2005
• Über eine Poetik der Inversion. Die Romane von Victor Segalen, (Iudicium) München 2003 (Dissertation)
• „Les Immémoriaux, chambre d’écho des maorie“, in: Rencontres en Polynésie — Victor Segalen et l’Exotisme, (Somogy) Daoulas 2011 (Ausstellungskatalog), S. 97
• „Victor Segalen en Polynésies: La Formation du Poète“, in: Rencontres en Polynésie — Victor Segalen et l’Exotisme, (Somogy) Daoulas 2011 (Ausstellungskatalog), S. 54–61
• „Point de vue de l’artiste. Victor Segalen: »autartiste«“, in: Silke Segler-Messner (Hg.), Voyage à l’envers, (Presses Universitaires de Strasbourg) Straßburg 2009, S. 59–67
• „Die kurze Spanne zwischen Aufbruch und Rückkehr. Victor Segalens Reisebuch Équipée“, in: Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann, Volker Woltersdorff (Hg.), Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, (Aisthesis) Bielefeld 2008, S. 195–209
• Lexikonbeitrag: „Victor Segalen“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Supplementband, (Bärenreiter / J. B. Metzler) Kassel und Stuttgart 2007
Angelika Jacobs (Universität Hamburg): Masken der Passiones. Hubert Fichtes Kritik am Paradigma literalen Fremdverstehens
Dass die Verschränkung des Realen und Imaginären nicht nur voraufklärerische Reiseberichte kennzeichnet, sondern eine Konstante in der Begegnung mit dem Fremden darstellt, wird in der Entwicklung vom facettenreichen Exotismus des 19. Jahrhunderts zur Ethnopoesie des 20. besonders deutlich. Aus der Kritik an der ,imaginären Ethnographie‘ des kolonialen 19. Jahrhunderts (Kramer) mit ihren stereotypen Exotismen erwächst im 20. Jahrhundert eine reflektierte Verschwisterung von Ethnographie und Literatur, welche die prinzipielle Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt unserer Wahrnehmung stellt. Sie spielt sowohl in der ethnologischen Forschung als auch in deren Narrativierung eine zentrale Rolle, die in den Werken von Lévi-Strauss und Leiris konvergieren: Die „Ethnopoesie“ will, gerade in der Beschäftigung mit schriftlosen Kulturen, die Fallstricke objektiv-wissenschaftlicher und subjektiv-literarischer Stereotypisierung gleichermaßen meiden, indem sie die Verbindung von Realem und Imaginärem als Basis des Kulturkontakts anerkennt und ästhetisch bearbeitet.
Hubert Fichtes Werk ist innerhalb dieser Entwicklung als scharfe Kritik an Lévi-Strauss zu verorten. Ich möchte Fichtes Großprojekt einer „Geschichte der Empfindlichkeit“, angelegt als roman-fleuve nach dem Vorbild Prousts, als Gegenkonzept darstellen, das mit Segalens Konzept des Exotischen als Fähigkeit zur genießenden Erfahrung des Fremden verwandt ist, sich von diesem wie von den französischen Ethnopoeten aber doppelt abgrenzt: durch die radikalere Form der Selbstauslieferung an die Feldforschung und die systematische Verschränkung ethnographischer Perspektiven auf die eigene und die fremde Kultur. Beides generiert eine Vielfalt literaler Maskierungen, deren synkretistischer Verbindungspunkt der Autor selbst als Zentrum der (Selbst-)Erfahrung darstellt. Fichtes „poetische Anthropologie“ findet in einem Stil lyrischer Verknappung und lakonischer Bruchstückhaftigkeit, der mehr gesprochen als gelesen sein will, seine literarische Form (und ein filmisches Äquivalent in in Jean Rouchs cinétrance). Das Paradox einer Grundsatzkritik literalen Fremdverstehens bei gleichzeitigem permanentem Schreiben über und an dessen Grenzen wird in den Schriften über den Vaudou aufgezeigt, die in Kooperation mit Leonore Maus Fotografien entstehen. Fichtes lebenslange Forschungen zum Vaudou werden als Motor der Entwicklung von der Kritik an den großen Erzählungen der Ethnographie zum Konzept der „Empfindlichkeit“ interpretiert, das als Folge ge- oder misslingender Fallstudien operiert.
Kurzbiographie:
- geboren 1961 in Hamburg, Abitur 1980 in Münster/Westf. und soziales Jahr in den Slums von Lima
- 1981-88 Studium der Germanistik und Romanistik mit Promotion (Goethe und die Renaissance) in Kon-stanz (,Konstanzer Schule‘)
- 1990-93 Deutsch-Lektorin an der Sorbonne (Paris IV) und DAAD-Lektorin in Nanterre (Paris X)
- Referendariat für das gymnasiale Lehramt in Lübeck
- 1998-2004 wissenschaftliche Assistentin an der Universität Hamburg (Interkulturelle Literaturwissenschaft), freiberufliche Tätigkeiten und Habilitation; seit 2010 Privatdozentin für Neuere deutsche Literatur in Hamburg, Forschungen zum ästhetischen Geschichtsbewusstsein, Exotismus, Symbolismus, Lyriktheorie und Ästhetiken der Stimmung.
- Seit 2012 Gymnasiallehrerin für Deutsch und Französisch in Hamburg.
Mechthild Duppel-Takayama (Sophia University, Tokyo): Die Geschichte der japanischen Nationalliteratur von Okazaki Tōmitsu. Eine Fallstudie zur Selbstexotisierung in der Wissenschaft
Mit der Übernahme des westlichen Literaturbegriffs während der Meiji-Zeit (1868-1912) entstand im damaligen Japan auch die Notwendigkeit, einen den neuen Kriterien entsprechenden Kanon der Literatur zu diskutieren. Dies erfolgte ab 1890 in Form zahlreicher Literaturgeschichten, die selbst ein Novum nach westlichem Vorbild waren und den Anspruch verfolgten, einen repräsentativen Überblick der japanischen Literatur zu geben und sich dem Ausland gegenüber zu positionieren.
Im Westen wurde dieser Kanon nicht durch das Übersetzen der japanischsprachigen Literaturgeschichten vermittelt, sondern es erschienen eigene ›Japanische Literaturgeschichten‹: für den deutschsprachigen Raum 1903-1906 die Geschichte der japanischen Litteratur von Karl Florenz und bereits 1899 William George Astons The History of Japanese Literature. Weitgehend unbekannt ist, dass ebenfalls schon 1899 in Leipzig eine Geschichte der japanischen Nationallitteratur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart publiziert wurde. Der Autor Okazaki Tōmitsu (1869-1913) veröffentlichte diesen »kurzen Abriss der Geschichte unserer Nationallitteratur […] in der Hoffnung, […] etwas mehr Licht über die geistige Arbeit meines Volkes und die Entwicklung seiner Ideen im Strome der Zeit zu verbreiten.«1
In dem geplanten Vortrag soll diese Position eines muttersprachlichen ›Insiders mit Sendungsbewusstsein‹ in den Mittelpunkt gestellt und zunächst nach der Vorgehensweise in der Publikation gefragt werden, die grundsätzlich zwei Alleinstellungsmerkmale hat: als von einem Japaner auf Deutsch verfasste japanische Literaturgeschichte und als erste auf Deutsch überhaupt. Okazaki hatte damit die größtmögliche Gestaltungsfreiheit, sowohl bezüglich der Werk- und Autorenauswahl als auch bei der Wertung der thematisierten Literatur. Analysiert werden seine Darstellungsmethoden und -strategien – Translationen, Parallelziehungen, Modifikationen – zur Befriedigung der Erwartungshaltung der Leser im Rahmen der ihm bekannten westlichen Standards. Darauf aufbauend wird erörtert, wie Okazakis Darstellung im Zusammenhang mit dem Exotismusbegriff eingeordnet werden kann: zwischen Exotikvermeidung und Selbstexotisierung.
- Okasaki, Tomitsu [sic]: Geschichte der japanischen Nationalliteratur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig: Brockhaus 1899, S. IX.
Kurzbiographie:
Mechthild Duppel-Takayama (Dr. phil.), Studium der Germanistik, Japanologie, Ethnologie und Afrikanistik. 1998-2001 DAAD-Lektorin an der Keio-Universität, 2000-2004 DAAD-Lektorin zbV (Außenstelle Tokyo). Seit 2012 als Professorin an der Sophia-Universität. Forschungsinteressen: Kulturkontakt, Nationalliteratur und Literaturrezeption.
Eriko Hirosawa (Meiji University, Tokyo): Das Leben im Wald. Hisakatsu Hijikata und seine ethnographischen Forschungen in Mikronesien. Eine biographische Skizze
Hisakatsu Hijikata (1900-1977) war ein japanischer Bildhauer, Dichter und Ethnograph, der in den 1940er-Jahren als Sachkundiger der Südsee vor allem im Kreis der Ethnologen bzw. unter Volkskundlern berühmt war. 1929 siedelte er nach Mikronesien über, welches seit 1919 unter der Kolonialmacht Japans stand. Nach der Ankunft in Koror in Palau beschäftigte er sich neben seiner Arbeit als Kunstlehrer intensiv mit den Recherchen über die einheimischen Gebräuche, Überlieferungen und Sprachen. Um sich der Bildhauerei widmen zu können, zog er 1931 auf die kleine Insel Satawal, wo er fast als einziger Japaner sieben Jahre lang lebte. Hijikata hielt seine naturgemäße Lebensführung mit der eingeborenen Ehefrau im Wald im Essay „Der Wald (mori)“ fest (In: Treibholz [ryuboku] II*). Die Idylle umfasste jedoch, wie eine neuere biographische Darstellung zeigt, nur einen kurzen Zeitraum während seines Aufenthalts in Mikronesien, der bis 1942, also insgesamt 13 Jahre, andauerte. Dem Schriftsteller Atsushi Nakajima (1909-1942), der 1941 ein Amt in Palau übernahm, war Hijikata auch freundschaftlich verbunden.
In dem geplanten Vortrag wird versucht, den Werdegang Hijikatas als Südseeforscher biographisch nachzuvollziehen. Der Schwerpunkt der Analyse wird auf die Schriften und Tagebücher gelegt, die Hijikata bis 1945 verfasst hat. Seine Sehnsucht nach Süden war zum einen durch die prekäre Existenzgrundlage nach dem Tod seines Vaters sowie durch die Entfremdung in der eigenen Gesellschaft verursacht. Zum anderen ist aber auch die Vorprägung seiner Fremdkulturwahrnehmung durch die europäische Sichtweise nicht zu übersehen (Rousseau, Gauguin). Vor der Abreise nach Süden äußert er ausdrücklich sein Interesse an der „Prähistorie“ (Tagebuchaufzeichnung vom 28. Februar 1929). Die Arbeiten der deutschen Vorgänger (Augustin Krämer, Salvator Walleser) gaben ihm Anstöße zu den eigenen ethnologischen Forschungen. Am Beispiel von Hijikata möchte ich überdenken, inwieweit er den europäischen Mustern des Exotismus gefolgt ist, und ob ihm die Suche nach dem Selbst im Fremden vor dem Hintergrund der Kolonialpolitik und des Kriegs gelang.
* Hijikatas Satawal-Tagebuch ist zunächst einmal mit dem Titel Treibholz (ryuboku) im Jahr 1943 erschienen. Das Manuskript der Fortsetzung dieses Bandes (Treibholz II) wurde jedoch aus dem Nachlass erst 1992 in seinen Gesammelten Schriften (Bd. 7) publiziert.
Kurzbiographie:
Eriko Hirosawa studierte Germanistik an der Rikkyo Universität (Tokyo). Nach einem Studienaufenthalt in Hamburg als DAAD-Stipendiatin (1990-1993) ist sie seit 1995 an der Meiji Universität (Tokyo) tätig. Aufsätze über Lou Andreas-Salomé, Gender-Theorie, autobiographisches Schreiben.
Michael Fisch (The Hebrew University of Jerusalem): Exotismen in der Religion. Eine explorative Falluntersuchung am Beispiel eines „Islam in Japan“
Die allgemeine Frage nach japanischen Exotismen könnte die spezielle Frage nach Exotismen in Japan beinhalten. Einer von vielen Exotismen in Japan ist die kaum bekannte Tatsache, dass die monotheistische Religion des Islam in Japan seit einem Jahrhundert vorhanden ist, wenngleich ein »Islam in Japan« (a) kaum in öffentliche oder mediale Erscheinung tritt, (b) in seiner Ausrichtung und Ausweitung Schwankungen unterliegt und (c) mal gefördert und mal behindert wurde. Die Frage nach einem besonderen »Exotismus in der Religion« könnte für Japan die Antwort beinhalten, dass es beispielsweise einen »Islam in Japan« gibt, was sich auf den ersten Blick als überraschend erweist. Das Phänomen ist wenig erforscht und entsprechend kaum dargestellt. Ein Wikipedia-Eintrag hierüber ist entsprechend knapp gefasst und allgemein formuliert.
Warum und mit welchem Ziel gibt es einen »Islam in Japan«? Die Tatsache, dass die Entwicklung eines »Islam in Japan« mit dem Plan des Baus für eine Moschee bereits im Jahr 1909 einsetzt, trägt zugleich die Realität in sich, dass dieses erste islamische Religionsgebäude in Tokyo erst im Jahr 1938 fertiggestellt wurde. Bereits drei Jahre zuvor wurde in Kobe 1935 die erste Moschee eingeweiht. Somit wären eventuell besser die 1930er Jahre als Gründungsjahre für einen »Islam in Japan« festzuhalten, da überdies in diesen Jahren eine Welle von Neugründungen von islamischen Organisationen die japanische Öffentlichkeit erreichte. Von 1932 bis zum Kriegsende waren überdies akademische Institutionen aktiv.
Eine Unterbrechung dieses Exotismus nach 1945 bedeutete jedoch kein Ende des Exotismus, der hier als »Islam in Japan« bezeichnet wird. Nach einer Pause von mindestens einer Dekade wurde die akademische Beschäftigung mit dem Islam durch dasBuch »The structure of the ethical terms in the Koran« von 1959 von Toshihiko Izutsu wiederbelebt. Und es ist dieser Forscher, der mit seinen vier Standardwerken der Koran-Forschung der japanischen Islamwissenschaft eine Weltbedeutung verschafft:
(a) The structure of the ethical terms in the Koran. A study in semantics. Tokyo: Keio Institute of Philological Studies 1959.
(b) God and man in the Koran. Semantics of the koranic Weltanschauung. Tokyo: Keio University 1964.
(c) The concept of belief in islamic theology. Tokyo: Keio Institute for Cultural and Linguistic Studies 1965.
(d) Ethico-religious concepts in the Koran. The structure of ethical terms in the Koran. Montreal: MacGill University Press 1966.
Es stellt sich die Frage, ob es sich beim Exotismus »Islam in Japan« um einen Neo-Exotismus handelt oder ob die vorliegende Exotismus-Unterbrechung schlichtweg genutzt wurde, an eine spezielle Exotismus-Tradition anzuknüpfen im Kontext der »Exotismen in der Religion«.
Biographische Angaben:
Michael Fisch wurde 1964 in Gerolstein geboren. Er studierte Germanistik und Philosophie an der Freien Universität Berlin und erreichte dort seinen Magisterabschluss 1994 und seine Promotion 1999. Zehn Jahre später veröffentlichte er seine Habilitationsschrift. Im Jahr 2011 erschien seine Biographie über Michel Foucault, der eine Bibliographie vorwegging. Ebenfalls 2011 erschien seine Bibliographie über Jacques Derrida. Eine Textgeschichte zum Werk dieses Denkers soll 2022 erscheinen. Dem vorweg ging eine Sammlung von Aufsätzen über Jacques Derrida, die 2018 erschien.Von 2008 bis 2011 war er DAAD-Lektor an der Université de La Manouba in Tunis. Im Anschluss hatte er einen Lehr- und Forschungsaufenthalt am Institut für Semitistik und Arabistik an der Freien Universität Berlin Hier forschte er zum Thema »Qur’ân als Text«. Seitdem verfasste er ein Verzeichnis über deutschsprachige Ausgaben des Qur’ân (2013) und ein Quellenverzeichnis zur internationalen Qur’ân-Wissenschaft (2018). Von 2012 bis 2018 hatte er eine als DAAD-Lektorat geförderte Gastprofessur an der Helwan Universität in Kairo inne. Seit 2013 arbeitete er überdies als Hochschuldozent an der Universität Kairo.In einer Kooperation mit Nachwuchs-Wissenschaftlern aus der arabischen Welt arbeitet er seit 2013 an einem transkulturellen Tafsîr, also an einer Qur’ân-Übersetzung und Qur’ân-Interpretation aus einer nicht-europäischen Perspektive, deren Realisation und Fertigstellung auf mindestens zwanzig Jahre angelegt ist. Zu diesem Zweck gründete er das Institut für transkulturelle arabisch-deutsche Studien (IFTAS). Seit 2015 gibt er die Schriftenreihe Beiträge zur transkulturellen Wissenschaft (BZTW) heraus. In fünf Jahren sind bereits zehn Bände erschienen, zuletzt mit eigenen Aufsätzen zur Qur’ân- und Islam-Forschung. Seit Oktober 2018 bekleidet Michael Fisch die Position eines Gastprofessors auf dem »Walter Benjamin-Lehrstuhl für deutschjüdische Literatur- und Kulturwissenschaft« im Rahmen einer DAADLangzeitdozentur an der Hebrew University in Jerusalem. Seit 2019 ist er Mitglied der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft.
Thomas Schwarz (Nihon University, Tokyo): Die exotische Ordnung der Dinge in der Südsee. Das Wahrnehmungsraster der Aufklärung in Reiseberichten von Carl Friedrich Behrens
Der Vortrag setzt sich mit den Berichten über eine Weltumsegelung auseinander, die Carl Friedrich Behrens (~1701–1750) auf dem Schiff einer niederländischen Expedition unternommen hat. Als deren wichtigstes Ergebnis gilt die ‚Entdeckung‘ der ‚Osterinsel‘ (1722). Der Ethnologe Augustin Krämer kritisierte schon 1903, dass diese Expedition ihren Weg um die Welt „mit Blut“ gezeichnet habe.
In der Vorrede zu seinem Epos von 1728 hebt der Aufklärer Behrens hervor, dass „Schiffahrten und Entdeckungen neuer Länder“ für die „Künste und Wissenschaften“ und den Handel nützlich seien. Solchen „See-Fahrten“ um den „Erd-Kreys“ hätten europäische „See-Puissancen“ ihre Macht, also „Gewalt und Reichthümer“ zu verdanken. Behrens hat die erste Auflage seiner Beschreibung einer „nach Süden verrichteten Reise“ seinem „Poetischen Trieb“ folgend, in barocken Alexandrinern verfasst.
Meine These lautet, dass die Schriften dieses Autors den Diskurs über die Südsee präfiguriert haben. In seiner Wahrnehmung sind die Inseln des Pazifiks Orte, auf denen Kannibalen hausen. Aber auch die pazifische ‚Venus‘, die Bougainville mit seiner Beschreibung Tahitis (1771) zum Südsee-Topos schlechthin gemacht hat, bekommt bei Behrens einen überraschend frühen Auftritt. Sein Prosa-Bericht (1738) gibt auch Auskunft über das Wahrnehmungsraster, mit dem er seine Beobachtungen strukturiert hat. Er zeichnet auf, was er auf seiner Reise in drei „Reichen, nemlich den animalischen, mineralischen und vegetabilischen“ als Augenzeuge gesehen habe. Der Zedler von 1734 kennt das Stichwort „Exotica Peregrina, ausländische Dinge“, das ist alles, „was bey uns ungemein seltsam, unbekannt“ ist „oder von der Natur auf unserem Grund und Boden nicht hervorgebracht“ wird. Die klassische Ordnung der exotischen Dinge war ausdifferenziert in ein dreifach gegliedertes epistemologisches Feld des Fremdartigen, bestehend aus „Regno animali“, „Regno minerali“ und „Regno vegetabili“. Diese Taxinomie folgte der im 18. Jahrhundert üblichen Systematik. Wenn Behrens sie anwendet, steht er auf der Höhe seiner Zeit, aber sie markiert auch die Grenzen seines Denkens.
Biographische Angaben:
Thomas Schwarz unterrichtet nach DAAD-Lektoraten in Südkorea und Indien seit 2013 in Japan. 2020 hat er eine Professur in der Germanistik der Tokyoter Nihon University übernommen. Er hat über den österreichischen Exotisten Robert Müller promoviert. 2013 hat er eine Geschichte der deutschen Literatur über Samoa vorgelegt. Derzeit erforscht er in erster Linie die deutsche Pazifik-Literatur.
Fermin Suter (Donau-Universität Krems / Universität Basel): Emotionswissen im Exotismus. Indonesien im deutschsprachigen Reisebericht nach 1900
Der deutschsprachige literarische Exotismus der ersten Hälfte des 20. Jhs. war auch ein emotionstheoretisches Projekt. Zeitgenössische Theoreme des Exotismus verwiesen auf historische, produktionsästhetische und spezifisch kulturelle Formen von Emotionalität, um die Poetik ‚des‘ Exotismus zu erörtern bzw. eine solche zu entwerfen: Friedrich Brie betont die romantischen Wurzeln der exotistischen Suche nach „Freiheit der Emotionen“; Victor Segalen entwirft seine Ästhetik des Diversen u.a. im Zeichen eines „Exotismusgefühl[s]“; Willy Seidel stellt das ‚deutsche Sentiment‘ ins Zentrum seiner Exotismus-Untersuchung. Und auch in den Reiseberichten der Zeit werden emotionale Phänomene nicht bloß darzustellen bzw. rezeptionsseitig zu evozieren gesucht, sondern regelmäßig auch mehr oder weniger explizit befragt. Das sollte nicht überraschen, hatte um die Jahrhundertwende ‚Emotionalität‘ (Pahl) in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen doch Konjunktur. Entsprechend zahlreich bestehen diskursive Verbindungslinien zwischen ästhetischen, anthropologischen, psychologischen, medizinisch-physiologischen Debatten und Theorien und genuin reiseliterarischen Themen und Denkfiguren.
Ausgehend von Willy Seidels Artikel Exotismus in deutscher Literatur (1928), in welchem der Reiseschriftsteller ‚Einfühlung‘ zum Kern der exotistischen Poetik erklärt und diese wiederum an das deutsche koloniale Projekt rückbindet, soll der Beitrag die Allianzen zwischen kolonialen und Emotionsdiskursen thematisieren. Am Beispiel ausgewählter Indonesien-Reiseberichte von Richard Katz, Julia Menz und Karl Helbig kann gezeigt werden, wie exotistische Texte, die nicht auf eine apolitische Form der Idealisierung des Fremden (Reif) reduziert werden können, Emotionswissen in kolonial(-revisionistisch) relevantes Wissen (und umgekehrt) übersetzen.
Besonders prominent zeigt sich dies an der damaligen Beschäftigung mit dem vermeintlich typisch indonesischen Amok bzw. der kolonialen Angst davor im Rahmen literarischer Einfühlungsdiskurse. Aus einer praxeologischen Perspektive auf Emotionalität (Scheer) kann literarischer Exotismus folglich beschrieben werden als emotional style (Reddy) und als ein Set an emotionalen Praktiken: Er generiert, prüft und vermittelt proto-ethnologisch emotionshermeneutisches und kolonial anwendungsorientiertes Emotionswissen. Der Exotismus nach 1900 tritt damit tatsächlich in eine Phase der Reflexivität ein – nicht aber Desillusionierung (Börner) und Dekonstruktionen exotistischer Phantasien (Mayer) folgen daraus, sondern eine zunehmend engere Partizipation an nationalistischen und kolonialen Diskursen.
Biographische Angaben:
Fermin Suter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Donau-Universität Krems, Literatur-Archivar sowie Doktorand der Germanistik an der Universität Basel. Studium in Zürich und Bern, ebendort Mitarbeiter im Projekt „Die Affekte der Forscher“. Promotionsprojekt zu Indonesien-Reiseberichten und ‚Emotion als Exotik‘. Publikationen u. Forschungsinteressen in den Bereichen: Reiseliteratur und Emotionstheorie/-geschichte; Postkoloniale Germanistik; Postkoloniale Theorie und Humor; Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung; Archivtheorie und literarische Nachlässe; Avantgarde und Subkultur im Österreich der 1970er Jahre.
Manuel Kraus (Waseda University, Tokyo): Zwischen Kamera und Jagdwaffe. Exotismen und Ethnographie in den Auslandsexpeditionen vor dem Zweiten Weltkrieg nach Südamerika und Tibet von Otto Schulz-Kampfhenkel und Ernst Schäfer
„Das Fremde authentisch haben zu können, ohne daß es sich als widerständig erweist“ (Leiris 1985: 9),1 so Hans-Jürgen Heinrichs im Vorwort zu Michel Leiris Tagebuch Phantom Afrika. Diese „eurozentristische Idee“ (ebd.), rücksichtslos auch den letzten weißen Flecken der Erde zu erforschen, ist nicht neu und „kein Ort der Welt, wo es nicht zum Himmel stänke, oder der nicht zumindest unter dem Einfluß der maroden Nationen stünde. Mechanik, Waffen und Haudegen überall“ (ebd.: 245), mokiert Michel Leiris, denn es ist gerade die Zeit zwischen Machtergreifung und Zweitem Weltkrieg, in denen abenteuerlich durchgeführte Expeditionen an vielen Orten der Welt stattfinden wie etwa die von Otto Schulz-Kampfhenkel nach Liberia, einem „stets finanzschwachen Negerstaat“ (Schulz-Kampfhenkel 1933: 4), aber auch zahlreichen vom Deutschen Alpenverein und der Himalaya-Stiftung gesponserten Expeditionen in den Himalaya, unter denen auch diejenige von SS-Oberscharführer Heinrich Harrer. Höhepunkt dieser Abenteuerreisen sind ohne Zweifel die Tibet-Expedition 1938/39 von Ernst Schäfer sowie die Amazonas-Jari Expedition 1935/37 Schulz-Kampfhenkels an die Grenze von Französisch-Guayana. Sowohl Schäfer als auch Schulz-Kampfhenkel wussten ihr wissenschaftliches Material propagandistisch auszuwerten, indem sie einem breiteren Publikum in Form von Filmen, Reisebüchern und unzähligen Fotos das Fremde und Exotische eingefangen zwischen Kamera und Jagdwaffe näher brachten. Während in den Traurigen Tropen von Claude Lévi-Strauss das optische Besitzergreifen im Vordergrund steht, um auf diese Weise „einen neuen Blick auf die Wesen und Dinge“ (Loyer 2017: 574)2 zu bekommen und indem der Blick auf das Exotische „die ethnographische Reise zur Archäologie des Selbst“ (ebd.) versinnbildlicht, ist es auf deutscher Seite nach wie vor der aggressive „Jägerblick“ (Kreimeier 1997: 56)3 sowie der Blick auf das Primitive als „Verherrlichung des Abenteuers und der Ethnologie“ (Loyer 2017: 572), der in Felix Speiser, Hans Schomburgk, Wilhelm Filchner sowie in den Romanen von Tex Harding seine Vorbilder findet. Der vorliegende Beitrag beleuchtet im Vergleich mit den Traurigen Tropen von Claude Lévi-Strauss sowie Phantom Afrika von Michel Leiris, inwiefern zwischen den jeweiligen Veröffentlichungen der Wissenschaftler eine „Wasserscheide“ (Loyer 2017: 583) entsteht, bei der sich ähnlich wie nach dem Erscheinen von Traurige Tropen die Frage stellt: „Ist (er) ein Wissenschaftler? Ein Schriftsteller? Kann man das eine und das andere sein? Das eine ohne das andere?“ (Ebd.) Dabei sollen auch zeitgenössische Reisebeschreibungen und Romane wie in etwa von Jean-Marie Blas de Roblès, Eduardo Sguiglia, Mario de Andrade, Alejo Carpentier, Jens Sparschuh, Jörg Isringhaus oder Daniel Everett in die Betrachtung mit einbezogen werden.
1 ) Leiris, Michel (1985): Phantom-Afrika. Tagebuch einer Expedition von Dakar nach Djibouti 1931-1933, Erster Teil. Ethnologische Schriften, Bd.3, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag).
2) Loyer, Emmanuelle (2017): Lévi-Strauss. Eine Biographie. Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag).
3) Kreimeier, Klaus (1997): Mechanik, Waffen und Haudegen überall. Expeditionsfilme: das bewaffnete Auge des Ethnografen. In: Bock, Hans-Michael / Jacobsen, Wolfgang / Schöning, Jörg (Hrsg.): Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland 1919-1939. München (edition text + kritik), S. 47-61.
Biographische Angaben:
Dr. phil. Manuel KRAUS wurde 2015 nach einem Studium der Germanistik an der Tokyo University of Foreign Studies (B.A.) und an der Saint Paul‘s University Rikkyo (M.A.) mit einer Arbeit über die Textsemantik des Antezedenten und semantische Funktion des Relativsatzes (Peter Lang Verlag, 2017) promoviert. Seit 2011 Lehrtätigkeit als Gastlektor im Bereich der japanischen Germanistik und Deutsch als Fremdsprache (DaF) an verschiedenen Universitäten in Japan, seit 2019 als Assistant Professor an der Waseda Universität in Tokyo fest angestellt. Neben der sprachwissenschaftlichen Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit dem Werk von Gerhard Roth und Walter Kempowski sowie kulturwissenschaftlichen Themen wie der Expeditionspolitik während des Nationalsozialismus, insbesondere in Tibet und Südamerika.
Franziska Bergmann (Universität Trier): Sinnesfülle. Zur aisthetischen Ästhetik des Exotismus
In seiner Reise um die Welt (1836) entwirft Adelbert von Chamisso ein Südsee-Erlebnis mit den Worten „[o] könnt ich doch mit einem Atemzuge dieser lauen, würzigen Luft, mit einem Blicke unter diesem licht- und farbenreichen Himmel Euch lehren, was Wollust des Daseins ist“ 1 als intensive Erfahrung, für die eine synästhetische Wahrnehmung und insbesondere auch die Nahsinne kennzeichnend sind. Damit rekurriert Chamisso auf prominente Darstellungsstrategien des Exotismus, erweist sich dieser doch als ein einflussreiches Diskursmuster westeuropäischer Provenienz, in dem die Begegnung beziehungsweise Konfrontation mit als exotisch entworfenen Ländern, Kulturen, Menschen und Dingen die Verheißung eindringlicher sensorischer Empfindung in sich trägt und die Rehabilitation der im Zuge der zunehmenden abendländischen Modernisierungsprozesse verkümmerten Sinne verspricht. Auf diese Weise werden dem Exotischen ähnliche Wirkmechanismen wie der Sphäre der Kunst zugeschrieben. Die Kunst soll, wie zahlreiche Theorien zur Ästhetik insbesondere seit Baumgartens Aesthetica (1750/58) wiederkehrend konstatieren, maßgeblich auf die Gesamtheit der menschlichen Sinnesempfindung einwirken und den synästhetischen Gegenpol zu gleichsam anästhetisch gewordenen, primär rational operierenden Gesellschaften bilden. Mithin sind – so die leitende These des Vortrages – Aisthetik und Ästhetik des Exotismus eng verklammert.
Der Vortrag, der die wesentlichen Ergebnisse meiner im Juli 2020 an der Universität Trier eingereichten Habilitationsschrift zusammenfasst, wird an ausgewählten Beispielen aus der deutschsprachigen, britischen und französischen Literatur zwischen dem ausgehenden 18. und frühen 20. Jahrhundert dieser aisthetischen Dimension des Exotismus nachgehen und damit einen wesentlichen Bestandteil seiner Ästhetik erhellen. Der Vortrag arbeitet diese Ästhetik – so ist es bereits angeklungen – als Aisthetik im Anschluss an Baumgarten heraus, als Ästhetik also, in deren Zentrum die sinnliche Wahrnehmung steht – das Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken wie auch synästhetische Perzeptionsformen. Neben der Frage, wann es zur diskursiven Verknüpfung von Exotik und sinnlicher Wahrnehmung kommt, spürt der Vortrag mithilfe der Analyse literarischer Verfahren am Beispiel ausgewählter Texte der aisthetischen Dimension des Exotismus nach. Dabei zeigt sich, dass sich die sinnliche Dimension des Exotismus insofern als attraktives Sujet für die Literatur eignet, als literarische Texte dies in vielfacher Weise zum Anlass nehmen, sich mit ihren eigenen ästhetischen und medialen Bedingungen zu befassen.
- Chamisso, Adelbert von: Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdeckungs-Expedition in den Jahren 1815–18 auf der Brigg Rurik, Kapitän Otto v. Kotzebue. In: Ders.: Sämtliche Werke. Band II, München: Winkler Verlag 1975, S. 131.
Kurzvita:
Franziska Bergmann, Juniorprofessorin für Gender-Forschung im Fach Germanistik/Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier und Vizesprecherin der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe FOR 2603 »Russischsprachige Lyrik in Transition. Poetische Formen des Umgangs mit Grenzen der Gattung, Sprache, Kultur und Gesellschaft zwischen Europa, Asien und Amerika«. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Literatur vom 17. Jahrhundert bis zur Jahrtausendwende, Komparatistik, Dramatik, Lyrik, Gender-Forschung, Postkolonialismusforschung, Interkulturalitätsforschung, Literatur und Medialität. Habilitation [eingereicht im Juli 2020 am FB II der Universität Trier] zum Thema Sinnesfülle. Schreibweisen des Exotismus in der deutschsprachigen und westeuropäischen Literatur vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert.
Andreas Michel (Rose-Hulman Institute of Technology, Terre Haute / Indiana): Exotismus und Gastfreundschaft. Notizen zu Victor Segalens Ästhetik des Diversen
Seit Beginn der Kolonialzeit haben viele der außereuropäischen Kulturen die Imagination Europas beflügelt. Entweder standen diese Kulturen für eine bereits überwundene Frühphase der Zivilisation (Primitivismus) oder aber sie erfüllten, als Exotismus, europäische Sehnsüchte nach vorzivilisatorischen Lebensformen. In der Literatur- und Kulturkritik hingegen werden Werke der letzteren Art, des Exotismus, im generellen, und nicht erst seit Saids Studie zum Orientalismus, bisher fast ausschließlich negativ bewertet—als Handlanger von Kolonialismus und Imperialismus.
Jedoch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es auf europäischer Seite Einspruch gegen einen von Kokosnüssen und Inselparadiesen inspirierten Exotismus. Ein herausragender Vertreter der Kritik an dieser Richtung ist der bretonische Autor Victor Segalen (1878-1919). Für ihn geht es beim Exotismus — ganz theoretisch — um die Grundstellung zum Anderen, die er in der ästhetischen Einstellung (im Sinne von aisthesis) zum Anderen verkörpert sieht. In all seinen Schriften gilt es Segalen, dieser Empfindung auf den Grund zu gehen, am deutlichsten vielleicht in seinem Versuch über den Exotismus. Diese Sammlung von Notizen, entstanden zwischen 1903 und 1918, erkundet die Reichweite der Empfindung für das Andere in vielen Dimensionen und Disziplinen: der Geographie, Geschichte, Kultur, zuerst, sowie der Philosophie und Psychologie in späteren Eintragungen.
In meinem Vortrag versuche ich zu zeigen, dass die ästhetische Empfindung, um die es Segalen geht, am ehesten mit der Erfahrung des Erhabenen zu begreifen ist, so wie sie von Lyotard auf der Grundlage Kants entwickelt wurde. In der Erfahrung des Erhabenen werden die begriffsbildenden Kräfte des Verstandes überwältigt und außer Kraft gesetzt. Sie können (was sie nach Segalen auch gar nicht sollen) diese Erfahrung daher nicht auf gewohnte Weise verarbeiten, d.h., es kann kein Begriff vom Objekt der Erfahrung entstehen; das Objekt entgleitet dem Zugriff des Verstandes. In genau diesem Entgleiten entsteht für Segalen die Empfindung des Anderen, worin er den wahren Exotismus zu erkennen glaubt. Segalen geht dabei so weit, dem nicht zu fassenden Objekt dieser Empfindung eine “ewige Unverstehbarkeit” (incompréhensibilité éternelle) zu bescheinigen. Damit steht allein das Subjekt der Erfahrung im Zentrum von Segalens Exotismus, das Objekt bleibt unbedacht. Die Errungenschaft von Segalens Formulierung der exotischen Empfindung ist, dass sie das Andere vor der Vereinnahmung des Verstandes (Europas, des Imperialismus, der Zivilisation) bewahrt.
Die offene Frage ist nun, wie weit diese Neugründung des Exotismus den imperialistischen Blick wirklich unterwandert.
Um dieser Frage nachzugehen, schlage ich vor, Segalens Verständnis des Exotismus mit Derridas Überlegungen zur Gastfreundschaft (Derrida, Von der Gastfreundschaft) in Beziehung zu setzen. Denn beide vereint die grundsätzliche Ausrichtung am Erhabenen; beide weisen die Idee zurück, nach der das Andere in Begriffen gefasst werden kann, ohne auf die eigenen Kategorien zurechtgeschneidert zu werden. Für Derrida wie für Segalen stellt das Andere eine Grenzerfahrung dar.
Bei näherem Hinsehen jedoch unterscheiden sich die beiden Ansätze von Grund auf, insbesondere dort, wo es um den Vorgang der Begegnung zwischen dem Subjekt (Selbst, Eigenen) und dem Anderen geht. Während das Selbst in Derridas Überlegungen zur Gastfreundschaft durch das Eingehen auf den Anderen an Macht und Autorität einbüßt und sich gegenüber dem Anderen öffnet, konzipiert Segalen sowohl das Selbst wie das Andere als unbeeindruckt und unbewegt von dem Moment der Begegnung. Der Kontakt mit dem Anderen resultiert nicht in einer Annäherung von Selbst und Anderem, in einem Zugehen aufeinander. Das ästhetische Empfinden für die Andersartigkeit des Anderen — Segalens Version des Exotismus — bleibt sozusagen ohne praktische Folgen.
Wenn diese Analyse zutrifft, dann hat Segalens radikales Zugeständnis einer “ewigen Unverstehbarkeit” an den Anderen einen widersprüchlichen Effekt: auf der einen Seite schützt es den Anderen vor Vereinnahmung, auf der anderen Seite jedoch, verewigt es die Andersheit von Selbst und Anderem in—wenn ich so sagen darf—einem gemeinsamen Exotismus.
Wenn aber das Überwinden des imperialistischen Zugriffs auf der Anerkennung von Verschiedenheiten im Kontakt der Kulturen basiert, muss die Begegnung mit dem Anderen anders gedacht werden. Derridas Überlegungen zur unbegrenzten Gastfreundlichkeit, die nicht ohne ihre eigenen Komplikationen sind, stellen einen solchen Versuch dar.
Segalens Vorstoß hin zu einer Neugründung des Exotismus ist ein wichtiger Schritt zur Befreiung des Exotismus aus den Fängen des Imperialismus. Er muss jedoch von einer Theorie ergänzt werden, die den Zugang aufeinander mitträgt.
Kurzbiographie:
Andreas Michel ist Professor of German am Department of Humanities and Social Sciences at Rose-Hulman Institute of Technology (USA). Zusammen mit Darrell Arnold hat er den Band Critical Theory and the Thought of Andrew Feenberg (Palgrave Macmillan, 2017) herausgegeben, und mit Michael Baumgartner und Reto Sorg den Band Historiografie der Moderne: Carl Einstein, Paul Klee, Robert Walser und die wechselseitige Erhellung der Künste (Wilhelm Fink, 2016).
Shizue Hayashi (Hosei University, Tokyo): Die Kreuzung der Medien und die Entdeckung eines unversöhnlichen Selbstbildnisses. Marcel Beyers Gedichtzykus Don Cosmic
In meinem Beitrag geht es um die Art der Dichtung von Marcel Beyer (1965-), vor allem um seine Auseinandersetzung mit den Popkultur-Medien bzw. einer literarischen Nebenfrucht der deutschen Kolonialpolitik bzw. der Beteiligung an der Plantagenwirtschaft, die heutzutage kritisch zu reflektieren ist. Dazu lässt sich hier der Gedichtzyklus Don Cosmic (2014) anführen.
Beyer weist selber in seinem Gedichtband darauf hin, dass die Entstehung des Zyklus einerseits dem Briefwechsel zwischen Gottfried Benn (1886-1951) und Friedrich Wilhelm Oelze (1891-1978), dem Bremer Großkaufmann und wichtigsten Briefpartner Benns, zu verdanken ist; der Text assoziiert unterschiedliche Motive der Plantagenwirtschaft in Jamaika, über die Oelze an Benn brieflich berichtet hatte. Andererseits zeigt Don Cosmic im Titel ein Musikstück von Don Drummond (1932-1969), der als einer der Begründer des am Ende der 1950er Jahren auf Jamaika entstandenen Musikgenres „Ska“ bekannt ist. Indem sich Beyer von dem Briefwechsel zwischen Benn und Oelze stark inspirieren lässt, verbindet er die Geschichte des deutschen Imperialismus mit dem „Ska“, diesem Musikgenre, das das Selbstporträt Jamaikas seit den 1960er Jahren entscheidend stark geprägt hat.
Mein Beitrag untersucht zum einem, wie Beyer in seiner Dichtung eine umstrittene Figur wie Gottfried Benn, d.h. den Außenseiter der „inneren Emigration“, reflektiert. Auf der anderen Seite thematisiert der Beitrag eine Perspektive des Zyklus Beyers, nämlich den, wie die geschichtliche Situation Jamaikas von dem imperialistischen Europa als nicht westliche und nicht moderne Welt, d.h. als Welt des Hör- und Tastgefühls vorgestellt wird. Dabei lässt sich zeigen, dass die westliche und moderne Welt oft mit der Metaphysik assoziiert wird bzw. das Hör- und Tastgefühl als leibliches Medium gegen westliche Hegemonie bzw. Selbstidentität als deutscher Dichter verstanden werden könnte. Der Vortrag dient der Erörterung, wie sich der Zyklus Beyers als ein poetologisch-kulturgeschichtlicher Dialog zwischen dem Westen und einem Land „der Tropen“ lesen lässt.
Biographische Angaben:
Geb. 1972 in Osaka, Japan. Studium der Germanistik an der Rikkyo-Universität Tokyo, promoviert mit dem Thema Paul Celan, Gerhard Richter und Anselm Kiefer unter dem Kontext der Erinnerungskulturen bzw. der (Un)darstellbarkeit von Shoah und Vergangenheitsbewältigung Deutschlands. 2006-2010 Lektorin für Deutsch an dem Rikkyo-Universität-Language Center (jetzt Center for Foreign Language Education and Research), 2012-2015 außerordentliche Professorin an der College of Liberal Arts and Sciences der Kitasato-Universität Tokyo, 2014-2016 Beschäftigung eines Forschungsprojektes für Poetik von Thomas Kling an der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS). Seit 2016 Professorin für die Fakultät der interkulturellen Kommunikation an der Hosei-Universität Tokyo.
Tobias Schickhaus (Universität Bayreuth / Doshisha University, Kyoto ): Künstlerisch-kulturelle Felder des Exotismus: Carl Einsteins Negerplastik
Der am 26. April 1885 geborene Schriftsteller und Kunstkritiker Carl Einstein ist für seinen 1912 veröffentlichten Roman Bebuquin bekannt. Darüber hinaus feierte Einstein als einflussreicher Mitarbeiter zahlreicher Kunstzeitschriften beachtliche Publikums-erfolge, allen voran mit seiner 1926 veröffentlichten und in den Propyläen abgedruckten Monographie Die Kunst des 20. Jahrhunderts.
Im Zusammenhang mit der Veranstaltungsreihe Exotismen in der Kritik ist Einsteins 1915 erschienene Schrift Negerplastik von Interesse. Dieser Text wird aktuell als ein verdienstvoller Beitrag zur »Gleichwertigkeit afrikanischer Kunst« (Hofmann; Patrut 2015, 57) gelesen oder gar als »Akt interkultureller Kommunikation bis dato ohnegleichen« (Kiefer 1994, 134). Zudem wurde die Negerplastik in den frühen Arbeiten von Karl Mannheim (1964 [1921-22], 146) studiert und setzt seitdem auch für kultur-soziologische Fragestellungen interdisziplinäre Impulse.
Zum Stein des Anstoßes wurde für Einstein das Dekorative europäischer Flächenmalerei. Diese unterzog er einer kritischen Sicht auf den gesamten nachimpressionistischen Denkstil: »Der optische Naturalismus abendländischer Kunst ist nicht das Nachahmen der Außennatur; die Natur, die hier passiv nachgeahmt wird, ist der Standpunkt des Beschauers« (Einstein 2012 [1915], 21).
Betont werde im europäischen Illusionismus das visuell-vorgeprägte, und kulturell gesetzte Bild einer Kunstauffassung, welche – gleich einer Theatermaske – ihren Schöpfer nicht verkörpert, sondern vor sich herträgt. Das europäische Verständnis von Kunst bedient sich eines mimetischen Verfahrens. So, wie der Europäer Kunst zu beobachten gewohnt ist, blickt dieser mit Einstein argwöhnisch auf die afrikanische Kultur: »Kaum einer Kunst nähert sich der Europäer dermaßen misstrauisch, wie der afrikanischen. Zunächst ist er hier geneigt, überhaupt die Tatsache Kunst zu leugnen, und drückt den Abstand, der zwischen diesen Gebilden und der kontinentalen Einstellung sich auftut, durch eine Verachtung aus, die sich geradezu eine verneinende Terminologie schuf.« (ebd. 7) Stattdessen heißt es bei Einstein empathisch: »Ich glaube, sicherer als alle mögliche Kenntnis ethnographischer usw. Art gilt die Tatsache: die afrikanischen Skulpturen!« (247) Gegen eine seit der Neuzeit vorherrschende Wirkungsästheitk, in der das Dreidimensionale zeitlich wegempfunden worden sei (ebd.), konfrontiert nach Einstein die Plastik durch die Distanz. Das Verständnis von Kunst als Konversationsstoff zwischen Künstler und Rezipient weicht der Adoration von räumlicher Tiefe.
Auf diese Argumentation möchte der Vortrag näher eingehen. Das Paradox von Exotismen – und zu erörternde Problem dieses Vortrags – lautet: ‚Fremde Form‘ wird als etwas je historisch Einzigartiges gewürdigt; als Kunst jedoch scheint sie erst in Erscheinung zu treten, nachdem sie in ihrer kulturellen und historischen Bedingtheit relativiert wurde. Wie, so ist zu fragen, wird die Auslegung der Distanz in der Negerplastik im Zusammenhang mit der historischen Kritik von und über Exotismen begründet?
Literatur
- Einstein, Carl 2012 [1915]: Negerplastik. Mit 119 Abbildungen. Hrsg. v. Friederike Schmidt-Möbius. Stuttgart.
- Hofmann, Michael; Patrut, Iulia-Karin (2015): Einführung in die interkulturelle Literatur. Darmstadt.
- Kiefer, Klaus (1994): Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde. Tübingen.
- Mannheim, Karl (1964 [1921-22]): Beiträge zur Theorie einer Weltanschauungs-Interpretation, in: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hg. v. Kurt H. Wolff. Berlin, S. 91-155.
Biographische Angaben:
Lehr- und Forschungstätigkeit konzentrieren sich auf die allgemeine und interkulturelle Literatur- und Theatergeschichte der deutschsprachigen Länder des 20. Jahrhunderts. Einbezogen sind damit Fragen zur Geschichte der Wissenssoziologie sowie der Editionswissenschaft. Hinzu kommen besondere Interessen für die Übersetzungswissenschaft im deutsch-japanischen Kontext. Hauptarbeitsgebiete im Bereich Deutsch als Fremdsprache liegen in der Literaturlehrforschung, Sprach- und Kulturvermittlung sowie in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften. Seit 2018 Assistent und Habilitand am Lehrstuhl für Interkulturelle Germanistik (Universität Bayreuth).
Leena Eilittä (University of Helsinki): Die Wiener Moderne und der Exotismus
In diesem Vortrag werde ich die verschiedenen Facetten von Exotismus in der Literatur von Wiener Moderne erörtern. Die Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig und Richard Beer-Hofmann bearbeiteten exotische Geschichten und Orte wodurch sie ihre Ideale, Wünsche und Ängste ausdrücken könnten in der schwierigen, antisemitistischen Lage ihrer Zeit. In seinen Dramen und Librettos fand Hugo von Hofmannsthal zahlreiche Figuren und Motive aus den zeitlich und räumlich entfernten Gegenden, um seine besondere Modernität zu entfalten. Stefan Zweig bearbeitete Legenden aus verschiedenen Kulturräumen, um geschichtliche und religiöse Handlungsmuster für seine Ängste und Hoffnungen zu finden. Und Richard Beer-Hofmann ging bis zu den semitischen Mythen aus Syrien um einen Gegenpol für die fin-de-siècle Umstände in Wien zu entwerfen. Der Kontrast zwischen Wien und den exotischen Kulturen, der in den Werken von zahlreichen Autoren aus Wiener Moderne zu finden ist, wird in diesem Vortrag im Kontext von einem Begriff aus der jetzigen Theorie von Weltliteratur besprochen. Durch den von David Damrosch entwickelten Begriff glocalism können die fruchtbaren Kontraste angesprochen werden, die zwischen lokalen Umständen und globalen Projektionsflächen in den Werken von Wiener Autoren entstanden.
Biographische Angaben:
Leena Eilittä ist Dozentin (PD) für allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Helsinki. Sie hat über Franz Kafka an der Universität Oxford promoviert. Ihre Forschungsinteressen sind Intermedialität, Interkulturelle Literatur und World Literature. Zur Zeit ist sie mit einem Forschungsprojekt über Wiener Moderne beschäftigt.
Thomas Pekar (Gakushuin University, Tokyo): Exotismuskritik und inverser Exotismus in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften
Die Umkehrung der Perspektive, nämlich das Auffinden von Elementen fremder, primitiver (sprich indigener) bzw. exotischer Kulturen in der eigenen, welches die Binarität von „fremd“ und „eigen“ ganz grundsätzlich unterläuft, war in der deutschsprachigen Literatur – um nur von dieser hier zu sprechen – seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein durchaus geläufiges Verfahren.1 Dieses Verfahren der Umkehrung benutzte auch Musil, wie sein Satz: „[U]nsere heimischen Primitiven sind uns fremder als die der Südsee“ (Musil, GW 8, S. 1171) zeigt, und wurde von der neueren Musil-Forschung auch herausgearbeitet.2 In meinem Beitrag soll Exotismus in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften [MoE] unter zwei Aspekten analysiert werden: Zum einen wird im Roman der in der damaligen Gesellschaft grassierende plakative Exotismus vorgeführt, kritisch ironisiert und so destruiert, der sich später etwa in der Figur des sogenannten „Sarotti-Mohrs“ verdichtet hat; ein solcher „Mohrenknabe“ (MoE, S. 220) namens Soliman taucht als Romanfigur auf, womit Musil die Geschichte des „fürstlichen Hofmohren“ Angelo Soliman fortschreibt, der ab 1753 in Wien lebte.
Zum anderen scheint neben dieser konkreten Exotismuskritik der gesamte Roman unter der Perspektive eines inversen Exotismus zu stehen: Am Anfang wird der Protagonist Ulrich als jemand vorgestellt, der „vor einiger Zeit aus dem Ausland“ (MoE, S. 13) zurückgekehrt ist, was eben die Umdrehung der „klassischen“ exotistischen Erzählung ist. In diesen heimischen Bereich wird jedoch all das implementiert, was man gemeinhin in einem Außenbereich ansiedelt – und was im Fall Musils vor allem durch dasjenige abgedeckt wurde, was der von ihm intensiv rezipierte französische Philosoph und Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl die mentalité primitive nannte.3 Entgegen Lévy-Bruhls dichotomischer (und dem Kolonialismus kongenial verbundener) Aufteilung der menschlichen Denkmodi ins Primitive und Rationale, löste Musil diese Gegensätze allerdings auf, indem er die sogenannte „primitive“ Denkweise der participation mystique und der multiprésence (der mystischen Partizipation und der Multipräsenz) in seine Figuren hineinverlegte.
- Vgl. Ührlings, Herbert: Inverser Primitivismus. Die ethnographische Situation als dialektisches Bild von Kafka bis Hubert Fichte, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6 (2015), S. 31-50.
- Vgl. z.B. Gess, Nicola: Ethnologie, in: Birgit Nübel/Norbert Christian Wolf (Hg.): Robert Musil Handbuch, Berlin/Boston 2016, S. 554-560, hier S. 557; vgl. in dem Aufsatz auch die Angaben zur Forschungsliteratur und auch: Gess, Nicola: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), München 2013.
- Vgl. Lévy-Bruhl, Lucien: Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, Paris 1910 u. La mentalité primitive, Paris 1922 (dt.: Das Denken der Naturvölker, Wien u.a. 1921 u. Die geistige Welt der Primitiven, München 1927)
Biographische Angaben:
Thomas Pekar wurde nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Politologie in Freiburg/Br. und Berlin mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit über Robert Musil promoviert; dann Habilitation in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft an der LMU München mit einer Untersuchung über die europäische Japan-Rezeption. Stipendien und Forschungsprojekte in Deutschland, Japan und den USA. Forschung und Unterricht an Universitäten in Oldenburg (als wissenschaftlicher Mitarbeiter), Bayreuth, Heidelberg und München; Assistant-Professor an der Keimyung Universität in Daegu/Süd-Korea und DAAD-Lektor am Germanistischen Seminar der Universität Tokio. Seit 2001 ist er Professor für deutsche Literatur- und Kulturwissenschaften an der Gakushuin Universität in Tokio. Zu seinen Forschungsinteressen gehören besonders die Exil- und Kulturkontaktforschung sowie die deutschsprachige Literatur der Klassischen Moderne.
Michael Wetzel (Universität Bonn): Exotisch oder esoterisch? Zu Chris Markers Mythisierung Japans in seinem Essay-Film ‘Sans Soleil’
Chris Marker (1921-2012, mit bürgerlichem Namen Christian Francois Boche-Villeneuve) hat ein neues Genre entwickelt, den s. g. Essay-Film. Begonnen als Kameramann bei Resnais (u. a. in “Hiroshima von Amour”) hat er zahllose Dokumentarfilme gedreht, die sich fast immer um geopolitische Fragen oder um historische Ereignisse (wie die Genealogie von 1968 in “Le Fond de l’air est Rouge”). Die Kamerareisen durch Raum und Zeit werden immer begleitet von der Erzählstimme aus dem Off, die nicht kommentiert, sondern Assoziationen, Zitate, Anekdoten wiedergibt. In diesem Kontext hat Marker mehrfach das ‘fremde’ und doch ‘vertraute’ Land Japan fasziniert, zentral in dem ‘Kult’film “Sans Soleil” (1982), der Bilder einer Reise durch Japan mit anderen Bildern aus Afrika, den Kapverdischen Inseln, Island etc. zusammen mit vorgelesenen Briefen an den Kameramann kombiniert, um der Faszination der räumlichen und zeitlichen Ferne näher zu kommen. Der Film hat als Pendant den Photoband über Japan “Le dépays” (1982), der ähnliche Impressionen einfängt. Schon früher hat Marker eine Film über Japan anläßlich der Olympiade gedreht: “Le mystère Koumiko” (1965), der die Exotik durch die Begegnung mit einer japanischen Studentin darstellt. Aber Marker will nur Bilder montieren, nichts als Bilder, aber gelingt es ihm, die Unschuld dieser Bilder von Stereotypen eines Exotismus freizuhalten? Oder verstrickt er sich in der piktographischen Esoterik der “Nouvelle Vague”, die den Blick auf die Realität gerade brechen will?
Ein Versuch über den ‘Versuch’!
Bitte sehen Sie nach Möglichkeit die Filme “Sans Soleil” und “Le mystère Koumiko” vor der Tagung.
Biographische Angaben:
Dr. Michael Wetzel promovierte nach dem Studium der Philosophie, Germanistik und Linguistik an der Universität Düsseldorf mit einer Arbeit über „Autonomie und Authentizität. Untersuchungen zur Konstitution und Konfiguration von Subjektivität“ und habilitierte sich an der Universität Essen mit einer Arbeit über „Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit“. Jüngste Publikation: Der Autor-Künstler: Ein europäischer Gründungsmythos vom schöpferischen Individuum (Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst, Band 15. Göttingen: V&R unipress 2020. Nach seiner Arbeit als assistant universitaire an der Université de Chambéry 1986/7 koordinierte er von 1987-1990 das DFG-Forschungsprojekt „Literatur und Medien“ an der Universität Kassel. Von 1992 bis 1998 hatte er die Funktion eines „Directeur de programme“ am Collège international de Philosophie in Paris, 1987/88 bekleidete er die Documenta-Professur an die Universität Kassel. 2002 erfolgte der Ruf an die Rheinische Friedrich-Wilhelm Universität in Bonn als Professor für Literatur- und Filmwissenchaft. Von 2005 bis 2010 leitete er das Forschungsprojekt „Von der Intermedialität zur Inframedialität“ im Rahmen des SFB „Medien und kulturelle Kommunikation“ der Universitäten Aachen, Bonn und Köln. Von 2012 bis 2018 leitete er die vom DAAD geförderte „Germanistische Institutspartnerschaft“ zwischen Bonn und der Seoul National University und der Rikkyo-Universität Tokyo.
Andreas Becker (Keio University, Tokyo): Exotismus und Selbstexotisierung bei Rammstein
Rammstein bringen das ‚Deutsche‘ und die deutsche Vergangenheit auf die Bühne, indem sie sich in ihren Bühnenshows selbst exotisieren. Sie führen sich selbst als Klischeebilder und Stereotype des Deutschen mitsamt dessen Spracheigenheiten auf. Gerade die bösen Bilder des Deutschen, die Verbrechen, Abgründe und Schlechtigkeiten, der Ekel, das Morbide, Gewalt und vor allem Märchen sind die Versatzstücke ihrer Arbeiten und Till Lindemanns Lyrik (Lüke 2008). Goethes Heidenröslein, schon damals Kitsch, wird im Song Rosenrot wiederaufgeführt, Brechts Dreigroschenoper klingt in Haifisch wider und Seemann wirkt wie ein Abziehbild von Lily Marleen. Das Video von Ohne Dich ist an Arnold Fancks Bergfilme angelehnt, Stripped ist ein Depeche Mode-Cover. Das Kokettieren mit der Nazi-Ästhetik Leni Riefenstahls, dem Jägergruß (Waidmanns Heil) führt zurück zu Wienes Dr. Caligari (Siegfried Kracauers Thesen auf den Kopf stellend), das Bühnenoutfit ist, wie so vieles, ein Detournement von Figuren Fritz Langs, dem Schauspiel Conrad Veidts. Diese populärkulturellen Versatzstücke werden in einen brachialen opern- und operettenhaften Schlagerrhythmus versetzt, mit Punk- und Hardrock-Elementen vermischt, Verweise auf Marylin Manson, Depeche Mode, Red Hot Chili Peppers, Kiss, Laibach und Kraftwerk fehlen dabei nicht.
Wenn Rammstein das ‚Deutsche‘ auf die Bühne bringen, verkörpern sie die Klischees der Anderen über Deutschland, sie versetzen Symbole, ähnlich wie etwa in der Mode Vivienne Westwoods. Da sie die Unkenntnis des globalen Publikums über die deutsche Kultur voraussetzen, beginnen Rammstein, wie im Sprachkurs Deutsch für Anfänger, in ihren Liedern zu zählen (Sonne, Links 2 3 4), die Modalverben zu üben (Ich will) oder (was man nicht tun darf) schlüpfrige Worte zu vermitteln. Dabei sind der Klang der deutschen Sprache, deren Rhythmus, das „R“, weltweit vorbekannt. Die Provokation besteht darin, dass Rammstein sich selbst freiwillig auf diese Weise ausstellen und damit sämtliche exotistischen Vorurteile auf sich bündeln. Sie leben eine Dystopie der Destruktion deutscher Kultur vor, indem sie deren dunkle Seiten aufführen und verkörpern, als gälte es, allein diese zu würdigen. Anders als etwa in der Trachtenmode, wo eine Selbstexotisierung mit einem Identifikationsimpetus einhergeht, entwenden Rammstein ebenjene Symbole und Melodien, um ihren Untergang mit Feuer- und Pyrotechnik zu zelebrieren. Dieses Verfahren der Zusammenfügung negativer Klischees und deren feiern auf der Bühne erzeugt in seiner künstlerischen Aufführung eine unverwechselbare globale Bezugsform, die in den letzten Jahren immer mehr beginnt, sich selbst zu symbolisieren und den Quellen, aus denen sie sich semiotisch speiste, selbstbewusst gegenüber zu treten, etwa im Logo der Band, dem Rammstein-Kreuz (und in Liedern wie Zeig dich). Im Video von Deutschland wird dieses Verfahren im historischen Zeitraffer vorgeführt. Es sind dies altbekannte Mechanismen des Exotismus, deren ästhetische Strategien und Voraussetzungen Rammstein aber vollkommen bewusst sind und die sie nach Belieben verkehren und umlenken und in einem Neue-deutsche-Härte-Kult vereinen. Das geht so gar so weit, dass sie in Frankreich Frühling in Paris singen, eine höchst provokante Fassung von Edith Piafs Je ne regrette rien, deren Inhalt aber – eben in Frankreich – von vielen sicherlich nicht verstanden wird.
Exotismus bei Rammstein meint aber auch Darstellung des Umgangs mit dem Fremden, vor allem dem gefühlten Fremden und den Abwehrmechanismen des Ichs. Das Exotische kann auch der eigene Körper sein, so etwa in Sehnsucht, Ausländer, Mutter, Mann gegen Mann. Ich möchte an den genannten Beispielen die popkulturellen Spielformen des Exotismus darlegen und zeigen, welcher ästhetischer Verfahren sich Rammstein bedienen und wie „Rammstein für Deutschland werden konnte, was Walt Disney für Amerika ist.“ (Andreas Meier: Der deutsche Klang der Merkel-Jahre, FAZ, Online-Ausgabe, 15.7.2019).
Literatur:
– Andreas Meier: Der deutsche Klang der Merkel-Jahre, FAZ, 15.7.2019, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/rammstein-auf-tournee-der-werdegang-des-rock-musikers-16284681.html
– Martine Lüke (2008): Modern Classics: Reflections on Rammstein in the German Class, in: Die Unterrichtspraxis, Frühling 2008 (Nr. 41), S. 15-23, https://doi.org/10.1111/j.1756-1221.2008.00002.x
– Peter Wicke (2019): Rammstein. 100 Seiten, Stuttgart: Reclam.
Kurzbio:
Andreas Becker, Assist. Prof. Dr. phil. habil. – Film‑ und Medienwissenschaftler an der Faculty of Letters der Keiō-Universität Tōkyō (seit 2016). 2014–2016 Eigene Stelle als Leiter des DFG-Projekts Yasujirō Ozu und der westliche Film. 2018 Habilitation zu Yasujirō Ozu, 2003 Promotion zur Zeitraffung und Zeitdehnung im Film – beides an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Publikationen/Forschungsschwerpunkte: Yasujirō Ozu, die japanische Kulturwelt und der westliche Film (Transcript 2020), Erzählen in einer anderen Dimension. Zeitdehnung und Zeitraffung im Spielfilm (Büchner 2012); Perspektiven einer anderen Natur. Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung (Transcript 2004); der japanische und der westliche Film, komparative Ästhetik und Phänomenologie des Films, Zeitdarstellung im Film und in den Medien.
Homepage: www.zeitrafferfilm.de.
Shiori Kitaoka (Osaka University): Ein neuer Exotismus auf der Bühne? – Flüchtlinge in zeitgenössischen deutschen öffentlichen Theatern
Seit der Zeit der alten Griechen bis heute gilt es als Prämisse des Theaters in Europa, dass Schauspieler „Andere“ spielen, die anders sind als sie selbst. Auch heute noch verwenden Schauspieler Kostüme und Make-up, um den „Anderen” darzustellen. Aufgrund dieses vorausgesetzten Verständnisses wird angenommen, dass jeder eine andere Person im Theater spielen kann. Wenn dieser „Andere“ jedoch aus einer anderen Kultur stammt oder einer anderen Rasse angehört, spiegelt die Darstellung Machtverhältnisse wider.
Trotz der Tatsache, dass Einwanderer seit den 1960er Jahren ein Teil der deutschen Gesellschaft sind, wurde diese Realität lange Zeit geleugnet oder ignoriert. Diese Missachtung der Existenz von Einwanderern gab es auch in der Theaterwelt. „Migrantisches Theater“, d. h. Theater, das von Immigranten selbst gespielt wurde oder Theater über Immigranten, wurde nicht in den öffentlichen Theatern, die der Hauptstrom des deutschen Theaters bilden, sondern ausschließlich in kleinen Theatern in Immigrantenvierteln aufgeführt. „Migrantisches Theater“ stand immer am Rande der deutschen Theaterwelt.
Balme (2007) weist darauf hin, dass „Interkulturalität in der deutschen Theaterlandschaft wie ein Fremdwort“ wirke, und dieses Ungleichgewicht in der deutschen Theaterwelt zeigt sich darin, dass Blackfacing bis vor kurzem aufgrund des „Mangels an geeigneten schwarzen Schauspielern“ offen eingesetzt wurde.
Nach dem massiven Zustrom von Flüchtlingen begannen die öffentlichen Theater in Deutschland, die Flüchtlingsthematik aktiv in ihre Theaterproduktionen einzubeziehen. Außerdem betraten in vielen Theatern die tatsächlichen Flüchtlinge die Bühne und begannen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Mit der Einführung von tatsächlichen Flüchtlingen müssen weiße Schauspieler nicht mehr stellvertretend die Rollen von Flüchtlingen spielen, und dies ist eine Möglichkeit, das Problem der exotischen Darstellungen von „Anderen“ im bestehenden europäischen Theater scheinbar zu überwinden.
Dieser Vortrag beschäftigt sich mit der Möglichkeit eines neuen Exotismus, der entsteht, wenn Flüchtlinge über ihre Erfahrungen im öffentlichen Theater sprechen.
Kurzbiographie
Wissenschaftliche Tätigkeit:
Seit 10/2019: Assistant Professor, Studies in Language and Society, Graduate School of Language and Culture, Osaka University
Wissenschaftliche Ausbildung:
2017-2021 Doktorstudium, The University of Tokyo
2013-2016 M.A. (Literaturwissenschaft), Osaka University
2009-2013 B.A. (Language and Culture), Osaka University
Forschungsschwerpunkte:
Zeitgenössisches deutsches Theater, Bilder der Flüchtlinge, Darstellungen der Katastrophe